Worum es geht ist noch nicht ganz klar, weil anscheinend noch niemand weiß, welche Rückmeldungen die Fraktionsspitze der Union bekommen hat. Dass sie "Leben erst nach der Geburt als lebenswert erachtet" ist allerdings die böswillige Verdrehung einer einzelnen Passage durch die üblichen rechten Internet-Spinner. Ihre Haltung bzgl. Abtreibung ist, dass die Würde im Vergleich zu den Freiheitsrechten der Mutter in Abstufungen gelten soll und dass erst mit dem Zeitpunkt in der Schwangerschaft, zu der der Fötus eigenständig überlebensfähig wäre, der Schwangerschaftsabbruch kriminalisiert werden kann*.
Es gibt im Grunde genommen nur zwei Möglichkeiten:
1. Es geht wirklich hauptsächlich um ihre Einstellung zu Abtreibungen
2. Es geht der Unionsfraktion darum, dass sie der Führung irgendwas anzeigen will: Generelle Unzufriedenheit, Retourkutsche für einen ihrer Vorschläge aus dem letzten Jahr der von den Grünen abgelehnt wurde, man glaubt wirklich dass die Frau "linksradikal" sei oder dass es jetzt mal genug ist mit den ganzen "Kompromissen" etc.
Beides wäre für die politische Kultur in Deutschland jetzt nicht so geil: #1 läuft darauf hinaus dass die Union entweder EXTREM rigide beim Thema Abtreibung ist oder dass sie sich (bereitwillig?) von rechten Internetspinnern vor sich hertreiben lässt. #2 bedeutet, dass die Koalition sich auf direktem Weg Richtung Ampel befindet. Ich wäre überrascht wenn die SPD da einfach freiwillig zurückzieht (außer die Kandidatin selbst will es so), insofern wird man jetzt sehen müssen wie die Union sich weiter verhält. Meine Vermutung ist dass man letztendlich eine gesichtswahrende Lösung finden wird, wie man aus der Nummer rauskommt, weil man mit dem Argument "der Abgeordnete ist nur seinem Gewissen verpflichtet", welches die Abweichler der Union heute gemacht haben, geradewegs die Koalition gesprengt wird, weil die SPD ihnen dann sicher etwas dazu zu erzählen hat wie sehr Mütterrente, Gastrosteuer, andauernder Rechtsbruch an der Grenze etc. mit ihrem eigenen Gewissen vereinbar sind.
Würde als Ausgang auf sowas tippen: Die Union schickt nochmal irgendwelche Rechtspolitiker, um mit der Frau zu reden. Sie reden mit ihr, berichten der Fraktion "dass ja doch nicht alles so schlimm ist wie behauptet", daraufhin sichern dann doch nicht alle, aber genug Mitglieder der Fraktion ihre Stimme zu, so dass sie mit Stimmen von (großen) Teilen der Union, SPD, Grünen und Linken gewählt wird im Paket mit den anderen beiden Vorschlägen. Alle tun so als wäre die Union auf einen Hoax reingefallen, egal ob es jetzt wirklich #1 oder nicht doch eher #2 war. An den "Plagiaten" war dann doch nix dran (Überraschung), also ist es jetzt für die Union ok. Man ignoriert geflissentlich, dass die Rechtspolitiker der Fraktionen die Kandidatin natürlich längst befragt hatten und wussten, wo sie genau steht, schon lange vor dem heutigen Tag. Wir sind alle ein wieder ein bisschen dümmer und der politischen Kultur der USA ein bisschen näher gekommen.
€dit: *ich will btw nochmal nachdrücklich darauf hinweisen, wie absolut behindert die aktuelle Lösung ist. Die SPD-FDP-Koalition der 1970er (!) hatte schon beschlossen, dass Abtreibungen in den ersten 12 Monaten straffrei bleiben sollen. Das hat das BVerfG (mit 6-2 Stimmen) dann gekippt, stattdessen haben wir deshalb jetzt diese alberne Lösung, wo einem Fötus einerseits die Menschenwürde zuerkannt wird, man ihn aber trotzdem ohne jede Konsequenz abtreiben darf, wenn man einmal bei einer Beratungsstelle war und selbst für die Abtreibung zahlen kann. Die "Strafbarkeit" der Abtreibung ist quasi komplett virtuell: Weder hast du als Frau irgendwelche Pflichten, den Fötus gesund zu halten, noch gibt es ein Nothilferecht zugunsten des Fötus von Dritten wie bei anderen Straftaten. Die ganze Lösung ist lächerlich und eines Rechtsstaates eigentlich unwürdig.